Blickwinkel
Denk-Anstöße
Dietrich W. Thielenhaus
Der Autor dieser Kolumne ist als
Inhaber der Marketing-Agentur
Thielenhaus & Partner GmbH
(Wuppertal) beruflich nicht nur mit
dem SHK-Bereich, sondern auch
mit zahlreichen anderen Branchen
vertraut. Für die Leser der RAS formuliert
er aus seinen Erfahrungen,
Einblicken und Erkenntnissen allmonatlich
„Denk-Anstöße“, die
über den Tag hinaus von Bedeutung
sein könnten.
Interessantes, Merkwürdiges und Nachdenkliches,
gesammelt von Dietrich W. Thielenhaus
Beschaffungsprobleme
DMit äußerst gemischten Gefühlen
geht Deutschland in die Sommerpause.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs
hat es keine vergleichbare
Anhäufung von derart krisenhaften
Zuspitzungen gegeben. Pandemie,
Konjunktureinbruch, Krieg,
Inflation, Zinswende, Gefährdung
der Energieversorgung und drohende
Hungersnöte – die Krisen-
Manager in Politik und Wirtschaft
scheinen den sich überschlagenden
Entwicklungen weder analytisch
noch problemlösend gewachsen
zu sein. Als brandgefährliche
Auswirkung dieser historisch einzigartigen
Krisen-Mixtur treten –
infolge der gestörten Lieferketten
– massive Beschaffungsprobleme
bei den Industrieunternehmen auf.
Viele Zulieferer können die einigermaßen
pünktliche, zuverlässige
Belieferung zu den gewohnten
Preisen nicht mehr garantieren.
Praktiker berichten von zunehmend
„balkanisierten“ Usancen
bei der Verbindlichkeit von Angebotskonditionen.
Immer mehr
Zulieferer schließen in ihren Allgemeinen
Geschäftsbedingungen
mittlerweile die Haftung für die
Einhaltung von Lieferterminen und
Preiszusagen aus. Als fatal erweisen
sich die daraus folgenden Kettenreaktionen
bei den Abnehmern
und Verarbeitern, die sich wachsenden
Risiken durch teilweise erhebliche
Lieferverzögerungen und
nachträgliche Preissteigerungen
weitgehend wehrlos ausgesetzt
sehen. Die Folgen: Der Wegfall
gesicherter Daten untergräbt die
Planbarkeit und führt zu Umsatzverschiebungen,
Gewinnausfällen,
Vorfinanzierungsbedarf und Liquiditätsproblemen.
Industrie unter Druck
Jedes fünfte Unternehmen der
Metall- und Elektroindustrie sieht
sich angesichts der hohen Energie-
und Materialkosten sowie der wirtschaftlichen
Unsicherheiten infolge
des Ukraine-Kriegs existenziell gefährdet.
Das hat eine im Mai erfolgte
Umfrage des Arbeitgeberverbands
Gesamtmetall ergeben.
80 % der Firmen bezeichnen die
massiven Kostensteigerungen bei
Energie und Material als substanzielle
Belastung. Fast ein Drittel der
Betriebe hat wegen der gestörten
Lieferketten und Transportprobleme
bereits die Produktion gedrosselt
oder wird dies kurzfristig tun.
Sollte es zu einem Embargo bei
russischem Gas kommen, so wäre
mit schwerwiegenden Konsequenzen
zu rechnen. Fast jedes vierte
Unternehmen geht in diesem Fall
von einem vollständigen Produktionsstillstand
aus. Davon wären
– so der Verband – etwa 300.000
Beschäftigte direkt betroffen. Angesichts
dieser Gemengelage hat
sich die Investitionsbereitschaft
deutlich abgekühlt. Über 55 %
der befragten Betriebe verschieben
eigentlich vorgesehene Investitionen,
was die Anpassung an den
Strukturwandel einbremst und die
Nachfrage am Markt senkt.
Putins Gashahn
Auch das Prognos-Institut hat sich
mit den Folgen eines Totalausfalls
der russischen Gaslieferung befasst.
Sollte im zweiten Halbjahr
kein russisches Gas mehr zur Verfügung
stehen, so werde Deutschland
in eine tiefe Rezession gleiten
mit einem Einbruch des BIP
um 12,7 %. Davon könnten rechnerisch
etwa 5,6 Mio. Arbeitsplätze
tangiert werden. Am härtesten
betroffen wären die Glasindustrie
und die Roheisenverarbeitung
mit Produktionsrückgängen um
fast 50 bzw. 34 %. Die volkwirtschaftlich
besonders bedeutende
Autoproduktion würde um 17 %
zurückgehen. Den gesamten deutschen
Wertschöpfungsverlust im
zweiten Halbjahr 2022 beziffert
Prognos für diesen Fall auf 193
Mrd. Euro. Das Institut stellt im
Klartext fest: „Putin kann uns jederzeit
den Gashahn zudrehen.“
„Es brennt lichterloh“
Noch einigermaßen zuversichtlich
zeigt sich der BDI mit Blick auf
die wirtschaftliche Entwicklung.
Gleichwohl hat der Industrieverband
seine Konjunkturprognose
für das laufende Jahr deutlich
abgesenkt – von 3,5 auf 1,5 %.
Diese Schätzung steht allerdings
unter der Voraussetzung, dass ein
Gaslieferstopp mit anschließender
Wirtschaftskrise ausbleibt. Der Industrie
mache „die doppelte Krise
aus der russischen Invasion in die
Ukraine und den Auswirkungen
der Covid-Pandemie“ zu schaffen.
Der BDI-Präsident merkt an:
„Massive Abhängigkeiten als Preis
für Kostenvorteile und Skaleneffekte
zu akzeptieren, das war aus
heutiger Sicht genauso falsch wie
der Verzicht unseres Landes auf
eigene hinreichende Investitionen
in seine Verteidigungsfähigkeit.
Wir haben uns die Feuerwehr gespart,
weil wir das Brandrisiko für
vernachlässigbar gehalten haben.
Jetzt brennt es lichterloh.“ Der
BDI rechnet frühestens zum Jahresende
mit einer Rückkehr der
wirtschaftlichen Entwicklung auf
das Niveau vor der Pandemie. Eine
Unterbrechung der russischen Gaslieferung
„hätte dagegen katastrophale
Auswirkungen und würde
die Wirtschaft unweigerlich in die
Rezession schicken“.
Wunsch und Wirklichkeit
Der Ökonom Hans-Werner Sinn
weist darauf hin, dass die These,
grüne Energie werde – im Vergleich
zu konventioneller – den
materiellen Wohlstand und die
Umweltqualität begünstigen, ein
„Widerspruch in sich“ sei. Als Begründung
führt der frühere ifo-Präsident
an, der Staat müsse grüne
Energie entweder durch ein Verbot
konventioneller Energien oder eine
künstliche Verteuerung erzwingen,
was die Inflation anhebe und den
materiellen Lebensstandard senke.
Fraglich sei zudem, ob der Umweltnutzen
überhaupt greife, wenn Europa
– wie bei der Zurückdrängung
von Verbrennungsmotoren – allein
handle. Die in Europa eingesparten
Erdöl-Mengen würden in anderen
Teilen der Welt verbraucht und verursachten
dort exakt den Ausstoß
an Kohlenstoffdioxid, der hier vermieden
werde. Sinn bringt seine
Kritik an der deutschen Energiepolitik
so auf den Punkt: „Wir ruinieren
die deutsche Autoindustrie,
fördern unsere fernöstlichen Konkurrenten
und helfen der Umwelt
nicht einmal ein bisschen.“
66 RAS | JULI-AUGUST 2022 www.ras-online.com