
Marktplatz Deutschland
RAS: Herr Dr. Meyer, Sie beschreiben in
Ihrem neuen Buch den radikalen gesellschaftlichen
Wandel weltweit bis 2030. Ist
er für die Wirtschaft eine Chance oder eine
Gefahr?
Dr. Jens-Uwe Meyer: Beides! Die Unternehmen,
die sich nicht verändern, werden
dramatisch an Bedeutung verlieren. Diejenigen
aber, die die Chancen des beschleunigten
Wandels nutzen, werden von den
neuen Billiarden-Märkten profitieren, die in
den nächsten Jahren entstehen.
RAS: Welchen Chancen sind das genau?
Dr. Meyer: Der Blackrock-CEO Larry Fink
brachte das Anfang des Jahres sehr gut
auf den Punkt: Die nächsten 1.000 Einhörner,
also Unternehmen mit einer Börsenbewertung
von mehr als 1 Milliarde Dollar,
werden Unternehmen sein, die preiswerte
Verfahren entwickeln, um den Klimawandel
zu stoppen. Wir dürfen nicht immer nur auf
die Gefahren des Wandels schauen und
die hohen Kosten beklagen. Wir müssen
den Blick auf die Chancen richten.
RAS: Geschieht dies zu wenig?
Dr. Meyer: Absolut! Im Bundestagswahlkampf
2021 hoffte ich stets, dass irgendjemand
einmal sagt: „Es entsteht gerade
ein neuer gigantischer Markt. Wir müssen
bei diesen Zukunftstechnologien die
Nummer 1 werden.“ Denn, der Wettbewerb
um diese Märkte der Zukunft hat längst
begonnen.
RAS: Das klingt in der Theorie sehr gut.
Doch wie soll das in der Praxis funktionieren?
Dr. Meyer. Das beschreibe ich in meinem
Buch. Das Bestehende zu optimieren,
genügt nicht mehr. Wir müssen in allen
Bereichen der Unternehmen – angefangen
bei der Produktpallette, über die Lieferketten
bis hin zur Zusammenarbeit in der
Zukunft – den „Reset“-Knopf drücken. Also,
alles auf null stellen und das Unternehmen
neu erfinden. Wir brauchen in den Unternehmen
Lust auf Veränderung.
RAS: Wie soll das gehen, wenn es immer
weniger Fachkräfte gibt, die die Arbeit
erledigen können?
Dr. Meyer: Genau das meine ich mit Lust
auf Veränderung. Wenn ich zum Beispiel
keine Fensterbauer mehr finde, die vor
Ort beim Kunden Fenster montieren, muss
ich eben neue Fertigungs- und Montageverfahren
erfinden: zudem überlegen, ob
die Definition der Gewerke im Handwerk
überhaupt noch zeitgemäß ist. Gefragt
sind digitale Lösungen, durch die
Beschäftigte effizienter eingesetzt werden
können.
RAS: Was für Lösungen sind das?
Dr. Meyer: Beispielsweise Wissensdatenbanken.
Einer der größten Zeitfresser in
Unternehmen ist das Einarbeiten neuer
Beschäftigter; zudem die Rückfragen, die
sich durch mangelndes Wissen ergeben.
In der Vergangenheit lösten wir dieses
Problem, indem es ausreichend hochspezialisierte
Fachkräfte gab, die den Kollegen
bei Bedarf helfen konnten. Eine Alternative
hierzu ist: Deren Know-how in Wissensdatenbanken
zum Beispiel in Form von Anleitungsvideos
zu hinterlegen, sodass sich
geringer qualifizierte Beschäftigte selbst in
eine Materie einarbeiten und das Problem
lösen können.
RAS: Müssen sich nur die Unternehmen
neu erfinden oder auch ihre Beschäftigten?
Dr. Meyer: Klare Antwort: auch die Beschäftigten.
Was nützt die beste Unternehmensstrategie,
was nützen die besten
Führungskonzepte, wenn die Beschäftigten
die Begeisterung für den Wandel nicht mittragen,
sondern sich eher durch das Neue
belästigt fühlen? Es braucht zwei Dinge:
Einerseits Weiterbildungskonzepte, die den
Beschäftigten sehr schnell neues Knowhow
vermitteln, und andererseits Beschäftigte,
die diese Angebote wahrnehmen und
sich proaktiv die Kompetenzen aneignen,
die sie künftig brauchen.
RAS: Sägen Angestellte, die dies tun, nicht
selbst an dem Ast, auf dem sie sitzen?
Dr. Meyer: Nein, im Gegenteil. In Zeiten der
Veränderung suchen Unternehmen geradezu
händeringend nach Beschäftigten, die
den Wandel aktiv mitgestalten. Deshalb
sägen Mitarbeiter, die an dem Wandel
mitwirken, zwar vielleicht an dem kleinen
Ast, auf dem sie zurzeit sitzen, doch direkt
darunter ist ein dicker Ast, der sie auffängt
und auch in den nächsten Jahren noch
stabil trägt.
RAS: Herr Dr. Jens-Uwe Meyer, wir danken
Ihnen für das Gespräch.
Zum Autor: Dr. Jens-Uwe Meyer ist CEO der Innolytics AG, Leipzig. Er gilt als einer der führenden Experten
für Digitalisierung und Innovation im deutschsprachigen Raum. (Fotos: ProfilBerater)
18 RAS | MAI 2022 www.ras-online.com